Verwaltungsrecht: Gibt es eine Impfpflicht?

von RA Christian Sitter, 11.11.2020

Kein Tag vergeht, an dem nicht wilde Spekulationen über eine „Impfpflicht“ und angebliche „Zwangsimpfungen“ kursieren. Erst heute wurde ich gefragt, was ich von folgendem „Meme“ halte:

Impfpflicht?

Dazu gibt es folgendes zu sagen: diesen § 20 Abs. 6 IfSG gibt es tatsächlich. Seit dem 1.1.2001. An diesem Tag trat auch das komplette Gesetz in Kraft. Also besteht diese Möglichkeit nicht erst „heimlich“ seit gestern, sondern ganz offen seit 20 Jahren.

Es ermächtigt den Bundesgesundheitsminister, in einem bestimmten, genau definierten Notfall eine Rechtsverordnung zu erlassen, die zu einer „Impfpflicht“ führen könnte. Dieser müßte der Bundesrat zustimmen. Tut er dies nicht, sind nach § 20 Abs. 7 IfSG die Landesregierungen zum Erlass einer Rechtsverordnung nach Absatz 6 ermächtigt.

Aber: bislang gab und gibt es KEINE einzige Rechtsverordnung, die eine solche Impfpflicht für einen dort genannten Fall auf Papier gebracht hätte. Die Gesetzgeber haben noch nie von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, sieht man vom Nachweis der Masernimpfung für Kleinkinder einmal ab, wenn diese die öffentliche Kindertagesstätte oder Schule besuchen. Diese Regelung gilt seit dem März 2020 und ist keine „Impfpflicht“, denn sie führt lediglich dazu, dass ein Kind ohne Nachweis die entsprechende Einrichtung nicht besuchen darf.

Also „die Impfplicht ist da“? Fakenews!

In den Medien Lügen die Politiker…“? Dummes Zeug!

„beschließen heimlich dieses Gesetz“? Reiner Unsinn!

Impfzwang?

Und wie stehts jetzt mit dem „Impfzwang“? Könnte Herr Spahn tatsächlich in einer Rechtsverordnung für jedermann/-frau/-divers anordnen, dass er/sie/es sich zu einer Impfung einzufinden hat, sobald es einen Corona-Impfstoff gibt? Und käme dann im Falle einer Weigerung die Hundertschaft, um die Pflicht mit aller kalter staatlicher Gewalt durchzusetzen?

Auch hier: ein klares „Nein!“ Eine Impfung ist ein Eingriff in das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit – das weiß der Gesetzgeber. Der Eingriff wiegt auch schwer. Allerdings sieht die Verfassung selbst vor, dass in das Grundrecht eingegriffen werden darf. Zum Beispiel durch konkurrierende Grundrechte anderer. Die Anwendung einer Impfpflicht ist keine freiwillige Aktion des Staates und liegt auch nicht allein im politischen Ermessen. Sie folgt aus der Schutzpflicht des Staates für seine Bürger, die das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit entwickelt hat.

Es geht also in erster Linie um den Schutz anderer Menschen. Bei gefährlichen, übertragbaren Krankheiten müssen Individualfreiheiten im Zweifel, aber eben nur dann und in klar begrenzten Ausnahmefällen, zurücktreten. Viele Senioren oder Säuglinge sind nicht geschützt und damit einem sehr konkreten Infektionsrisiko ausgesetzt. Der Staat muss dann die Frage beantworten: wieso dürfen Träger eines ansteckenden Virus frei herumlaufen und andere infizieren, obwohl sie sich zumutbarer Weise impfen könnten?

Das kann in letzter Konsequenz, aber auch nur dann und als wirklich letztes Mittel, zum Impfzwang führen. Gegen eine solche Anordnung steht aber jedermann der Schutz der Gerichte zu, die zu befinden hätten, ob diese verhältnismäßig ist. Der Deutsche Ethikrat hat dies bei der Masernimpfung für Kleinkinder offen bezweifelt; er schreibt, dass es fraglich sei, „ob eine Impfpflicht verfassungsrechtlichen Bestand hätte“. Auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages kam 2016 zu dem Schluss, dass „eine Impfpflicht für bedrohte Teile der Bevölkerung […] einen Eingriff in das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ darstelle, „der verfassungsrechtlich jedoch gerechtfertigt erscheinen kann“.

KANN. Wohlgemerkt.

Eine grundsätzliche, gar mit Zwangsmitteln durchsetzbare „Impfpflicht“ ist damit eher unwahrscheinlich, denn Artikel 2 des Grundgesetzes gibt dem betroffenen Bürger ein starkes Grundrecht an die Hand. Nur in Ausnahmefällen wird sie zu rechtfertigen sein.

Und dies ist eine durchaus salomonische Lösung: viele EU-Länder sind da bereits weiter und statuieren sehr wohl weitgehende Impfpflichten. In Deutschland gibt es sie (noch) nicht. Und wie am Wochenende in Leipzig gesehen, erlaubt dieses böse Land seinen mitunter ätzenden Kritikern sogar weitgehend ohne Beachtung der Maskenpflicht durchgeführte Großdemonstrationen in Corona-Zeiten. Aber niemand sollte sich wundern, dass bereits Bestrebungen verlauten, den Meinungskorridor in sozialen Netzwerken weiter zu beschränken.

Deshalb gilt umso mehr:

gerade wer – wie der Autor dieser Zeilen – mitunter übermäßige staatliche Regelungen kritisiert und gerichtliche Korrektur betreibt, sollte seriös auftreten und mit Fakten argumentieren und keine unsinnige Panik schüren.

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Datum: Mittwoch, 11. November 2020 15:56
Allgemein

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3 Kommentare

  1. 1

    Dieser Artikel ist gut, aber nicht mehr aktuell durch das 3. Bevölkerungsschutzgesetz wird/kann unserer Gesundheitsminister ermächtigt werden. Die körperliche Unversehrtheit aufzuheben und durch Dritte umzusetzen inklusive Bußgeld bei nicht Folgeleisten. Also ist eine Impfung jetzt definitiv umsetzbar. Alles andere ist weiter aktuell. Grüße

  2. 2

    Danke für den Kommentar. Aber die aktuelle Rechtsänderung, die ich übrigens für verfassungswidrig halte, ändert am Thema „Impfpflicht“ nichts. Viele Grüße, RA Christian Sitter

  3. 3

    Super geschriebener und informativer Artikel :-). In diesen Blog werde ich mich noch richtig einlesen

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